2./3. Juli 2022
Bereits um 8 Uhr in der Früh spürt man, dass es ein heißer Sommertag wird. Wir nehmen die Seilbahn am Stubaier Gletscher und gelangen so schnell höher. Ein steiler Abschnitt des Stubaier Höhenwegs führt uns zum Peiljoch und dort - bei einer Rast zwischen Hunderten von Steinmännchen - fällt der Blick das erste Mal zur Fernerstube, dem Gletscher über den der Aufstieg Richtung Becherhaus erfolgt.
Nach einem kurzen Abstieg zum Gletschersee unterhalb des Sulzenauferners - hier beginnt auch der Wilde-Wasser-Weg - beginnt der zweite Aufstieg. Dieser ist wesentlich länger als der erste und nach einer weglosen Passage im Geröll gelangt man auf's knirschende Gletschereis. Ab hier verwenden wir Steigeisen.
An der Lübecker Scharte angelangt legt man die Steigeisen ab und begibt sich auf eine abwechslungsreiche Strecke, durch Felsblöcke und Schrofen, hinauf zum Grat, der den Übergang zum nächsten Gletscher bildet.
Vom Grat ist das Becherhaus relativ schnell erreicht. Einige Gletscherspalten unterhalb des Wilden Freiger machen die Gletscherseilschaft zwingend erforderlich. Ein kurzer felsiger Abschnitt und etliche Steinstufen, gelegt aus den Blöcken der Umgebung, sind am Ende der heutigen Etappe zu bewältigen. Es ist ein recht anstrengender und langer Aufstieg, doch im Unterschied zum Zustieg mit Seilbahnunterstützung bis über 3.000 m, hat der Körper dabei mehr Zeit zu akklimatisieren, was einem gut tut.
Das Becherhaus liegt bereits auf italienischem Staatsgebiet. 2020 und 2021 generalsaniert, thront es am Gipfel des Becher und ist Südtirols höchste Schutzhütte. Lukas, der freundliche Hüttenwirt, begrüßt uns auf der sonnigen Terrasse mit einem milden, gut verträglichen Schapserl und erklärt uns das Wichtigste für die Ankunft. Bevor wir unser Zimmer beziehen legen wir die Ausrüstung ab und genießen barfuß den herrlichen Blick auf die Gletscher und die umliegenden Berge. Hier hat das Auge einiges zu erfassen, doch es bleibt Zeit dafür, denn bis zum Abendessen vergehen noch einige Stunden. Wir haben Glück - einige Musiker geben der Szenerie einen passenden Rahmen.
Das Innere der Hütte ist wunderschön. Reste alten Mauerwerks wurden in liebevoller Handarbeit in den neuen Bestand integriert, es gibt nun auch die Becherbar (!) und der Essbereich der Hütte bietet einen Ausblick der seinesgleichen sucht. Es macht ungemein Spaß hier oben Zeit zu verbringen. Ach ja, es gibt hier oben auch eine richtige Kapelle. Wer also etwas Besonderes vor hat...
Langsam, sehr langsam wird es hier oben dunkel. Erst nach 21 Uhr verschwindet die Sonne am felsigen Horizont und taucht die Landschaft ins Dämmerlicht. In den Tälern leuchten Siedlungen und Verkehrswege, über dem Becherhaus blinken die ersten Sterne am klaren Nachthimmel.
Die Nacht ist ausreichend lang. Jeder schläft hier oben anders als im Tal. Wichtig ist genügend Flüssigkeit und möglichst gute Regeneration, denn für den Körper ist diese Schlafhöhe alles andere als normal. Um 5 Uhr morgens blicken wir aus dem Fenster. Auch wenn es erst um 6 Uhr Frühstück gibt, begeben wir uns bereits jetzt nach draußen - zu eindrucksvoll ist die Morgenstimmung.
Nach dem reichhaltigen Frühstück verabschieden wir uns von Lukas und seinem Team, auch vom Becherhaus. Ein kurzer Abstieg bringt und zurück auf den Gletscher und wir beginnen den Anstieg zum Wilden Freiger.
Die Route führt über einen Blockgrat der mit einigen Stahlseilen versichert ist hinauf zum 3.393 m hohen Signalgipfel. Die dort befindliche Wetterstation liefert hervorragende Daten und hilft nicht selten, die Situation hier oben vom Tal aus besser beurteilen zu können. Ein kurzer Übergang, und der Hauptgipfel ist erreicht.
Der Wilde Freiger zählt zu den Stubai7Summits und besticht mit Aussichtsreichtum und zwei völlig konträren Seiten. Nordseitig fällt das Gelände stark ab und ist wesentlich steiler als jenes an der Südseite. Durch unseren hohen Übernachtungspunkt ist der Aufstieg kurz und wir haben jede Menge Zeit, diesen besonderen Moment in uns aufzunehmen. Der Gipfel liegt an der Landesgrenze zwischen Tirol und Südtirol. Ein altes Zollhäuschen erinnert an Zeiten der Grenzkontrolle.
Lange Abstiege führen zurück ins Stubaital. Es gilt den stattlichen Höhenunterschied von 1.800 Höhenmetern abzubauen und dafür wählen wir die Route durch's "Lange Tal" (Nomen est omen). Steigt man Höhenstufe für Höhenstufe ab, fällt einem die jeweils charakteristische Vegetation stark auf. Erst Flechten und nur wenige Pionierpflanzen, tiefer dann die ersten Berggräser und irgendwann auch wieder Wald. Jedoch bevor der Waldrand erreicht ist, erreicht man die gemütliche Nürnberger Hütte. Auch hier treffen wir auf ein äußerst gastfreundliches Hüttenteam. Es ist Mittagszeit und gerade weil wir anschließend nur noch absteigen, nehmen wir eine üppige Mahlzeit ein und schließen mit Käffchen und Kuchen ab.
Im Tal angekommen shutteln wir mit Öffis zurück zur Mutterbergalm. Zwei Tage, die sich anfühlen wie eine Woche, liegen hinter uns. Müdigkeit und Zufriedenheit kommen auf. Unsere Begleiter freuen sich auf Wellness im Hotel und sind in Gedanken bestimmt noch oft auf dieser Tour unterwegs.
Stubaier Bergführer GesbR