28. September 2023
Der Parkplatz am Eingang des Kraspestals in Haggen ist noch großzügig frei. Es ist kurz vor 8 Uhr morgens und nur die Fahrzeuge von zwei Jägern sind neben unserem abgestellt. Jagdbeobachtungen fielen uns bereits bei der Fahrt von Sellrain hierher auf, denn es ist Brunftzeit der Hirsche und in dieser Zeit hört und sieht man diese stattlichen Waldbewohner am häufigsten.
Die alpine Charakteristik der Nördlichen Sellrainer Berge (auch Vordere Kühtaier genannt) wird im Rotherführer von Heinrich und Walter Klier aus dem Jahr 1988 folgendermaßen beschrieben: "Unvergletschert, höchste Erhebung Rietzer Grieskogel, 2.884 m, kaum schroffe Felsen, sondern blockiges, grasdurchsetztes Urgesteinsgelände. Gipfel sind meist unschwierig zu ersteigen, schöne Höhenwege und Übergänge. Im Winter lohnendes Tourengebiet." Hört sich ideal an, für unsere heutige, herbstliche Bergtour in teilweise für uns unbekanntem Terrain.
Neben einer Kapelle beginnt ein unscheinbares Weglein. Es führt steil bergwärts und liegt gerade noch im Schatten. Die Sellrainer Südseiten können im Sommer enorm heiß sein, was ein weiterer Grund dafür ist, warum wir diese Tour jetzt gehen. Wie entstand überhaupt die Idee für diese Tour? Nun, für Bergführer:innen ist es immens wichtig, dass das persönliche Schatzkästchen an Erfahrung gut gefüllt ist. Erkundungen und das Erlangen aktueller Gebiets- und Routeninformationen sind Teil des Berufs - zugegeben, ein sehr schöner Teil des Berufs :-)
Nach knapp 600 Höhenmetern erreicht man den Sellraintaler Höhenweg, die aussichtsreiche Verbindung von der Zirmbachalm, die zwischen Haggen und Kühtai liegt, und der Rosskogelhütte am Rangger Köpfl in Oberperfuss. Zwei Bänke in bester Lage animieren zur Rast. Neben den Bänken leuchten Blau- und Preiselbeeren aus dem goldbraunen Gras, und so ganz unbeachtet wollen wir die auch nicht lassen.
Der nächste Teil des Anstiegs führt unter die Felswände des Seejochs. Irgendwo bimmeln noch die Glocken einiger Schafe, die auf ihrer Suche nach den besten Gräsern erstaunlich steiles Gelände erreichen. Ein imposanter Moränenwall gibt einem winzigen See seine existenzielle Grundlage. Auf ihm stehend blicken wir nach Osten und Nordosten, zu den Kalkkögeln und der steilen Peider Spitze, auf die gegenüberliegende Talseite, zum Kraspes- und Gleirschtal, und nach Südwesten, beinahe bis ins Kühtai. Es ist ein besonderer Ort, der auch eigenständig ein äußerst lohnendes Ziel für Wanderer:innen darstellt.
Das Seejoch liegt direkt oberhalb. Sein Steilgelände wird durch eine lange Querung nach Osten, hin zur Peider Scharte, gemieden. Man bewegt sich am Fuß kleiner Felswände und spürt die Wärme des dunklen Gesteins. Die Peider Scharte ist, wie die Flaurlinger Scharte, ein Übergang zwischen Sellraintal und der Flauringer Alm. Verhältnismäßig Wenige nützen diese beiden Wege. In Kombination ergeben sich wunderbare Rundtouren - im Sommer, wie im Winter.
Die gut 200 Höhenmeter von der Peider Scharte zum Seejoch sind durch neu gewonnene Ausblicke und die geänderte Richtung kurzweilig. Wir lassen uns Zeit, denn so manch gute Firn- oder Pulverschneeabfahrt entwickelt sich aus Beobachtungen wie wir sie heute machen. Am Gipfel weht ein gutmütiger, leichter Wind, der uns dazu animiert, eine geschützte Stelle zu suchen, von der aus wir mit Genuss in die umliegenden Berge blicken. Die weitere Strecke nach Westen zur Flaurlinger Scharte ist gut einsehbar. Meist direkt am Kamm, ab und zu links oder rechts davon, und stets mit eindrucksvollem Panorama geht und kraxelt man bis zum Metzen. Nordseitig liegt bereits etwas Schnee und wir erkennen bereits vom Seejoch, dass wir diesen im Bereich des felsigen Metzen betreten werden.
Knapp 3,5 km Wegstrecke sind es von der Peider Scharte zur Flaurlinger Scharte. Man bewegt sich an der Bezirksgrenze zwischen Innsbruck Land und Imst und blickt voraus, um den geeignetsten Weiterweg zu finden. Es gibt Abschnitte, die sich wunderbar zum bummeln und entspannen eignen, und andere, in denen etwas Konzetration und Kletterei gefordert wird. Der Gratgang macht Spaß und wir freuen uns über diese exklusive und ursprüngliche Form des Bergsteigens.
An der Flaurlinger Scharte resümieren wir kurz: Der gesamte Kamm war ein riesen Spaß und man kann getrost behaupten, dass hier Bergsteigen gefragt ist. IIer-Gelände sollte man sicher beherrschen, ebenso ist vorausschauendes Gehen und das Finden der besten "Durchschlüpfe" essenziell, um die Tour genussvoll zu begehen. In der Führerliteratur ist die Tour als Westgrat des Seejoch beschrieben und mit UIAA II bewertet. Eine wirklich äußerst empfehlenswerte Strecke.
Nun, wie gelangen wir zurück zum Ausgangspunkt? Open Street Map sagt, es gibt einen Verbindungsweg, der ziemlich isohypsenparallel, auf ca. 2.150 m Seehöhe, wieder talauswärts führt. An einem Bächlein trinkend fragen wir uns, wo denn genau diese Abzweigung ist? Sie ist nicht sonderlich ausgeprägt und verlangt beinahe mehr Spürsinn als die Kletterei am Kamm. Erst schmunzeln wir noch über die urige Wegbeschaffenheit, doch bald erleben unsere Trailrunningschuhe einen fortgeschrittenen Torsionstest, denn der kaum noch erkennbare Steig - er ist nicht markiert und bestimmt keine gute Option für Gelegenheitswanderer:innen - führt durch teilweise ziemlich steile Bergwiesen. Wir mögen solche Sachen, doch sind wir froh darüber, heute alleine unterwegs zu sein und eigenverantwortlich zu handeln. Besonders spannend wird's im Bereich des Rauhen Tals, oberhalb der Zirmbachalm: dort nämlich ist ein vermurter Graben weglos zu überqueren. Will man auf diesen Abenteuer-Teil verzichten, empfiehlt es sich, die Tour von der Zirmbachalm aus zu gehen.
In Haggen schließst sich der Kreis. Wir sind überglücklich, diese so schöne und ruhige Landschaft erlebt zu haben. Schöne Bergtouren und Wanderungen gibt es Dutzende im Sellraintal. Wir schätzen vor allem die großartigen Kombinationsmöglichkeiten sowie die gute Erreichbarkeit und erachten besonders auch Kühtai als einen hervorragenden Ausgangsort für Touren im Sommer und im Herbst.
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Literatur:
Heinrich und Walter Klier
"Alpenvereinsführer Stubaier Alpen"
Bergverlag Rudolf Rother 1988
ISBN 3-7633-1252-8
Stubaier Bergführer GesbR